Blick zurück

„Ein Neuanfang bei Null“ Blick zurück: Das Ende des Zweiten Weltkriegs im Wittekindshof

Von Michael Spehr

Vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Für den Wittekindshof bedeutete das Kriegsende jedoch keinen sofortigen Frieden. Die letzten Kriegsjahre sowie die Zeit der britischen Besatzung waren geprägt von Enteignung, Raummangel, Versorgungskrisen und massiver Überforderung. 

Ein Beitrag aus dem Wittekindshofer Archiv zeigt eindrucksvoll, wie tiefgreifend die Auswirkungen des Krieges auf das Leben der Menschen mit Behinderung und der Mitarbeitenden in der diakonischen Einrichtung waren – und wie mühsam der Wiederaufbau danach begann.

  • Sommer und Herbst 1941

    Mit der großen Verlegungsaktion im Rahmen des nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programms im Herbst 1941 wurde die Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner des Wittekindshofs schlagartig von etwa 1.300 auf rund 340 Menschen reduziert. Heute ist nachgewiesen, dass mindestens 358 dieser Menschen bis Kriegsende starben, oft auch in Einrichtungen, die als Tötungsanstalten bekannt waren. Das Schicksal von weiteren 205 Menschen ist unklar. Das Mahnmal auf dem Wittekindshofer Gründungsgelände erinnert an die Opfer des NS-Regimes.

    Als Vorwand für diese Maßnahme diente die angebliche Notwendigkeit, in vielen Wittekindshofer Häusern Ausweichkrankenhäuser für vom Bombenkrieg bedrohte Großstädte einzurichten. Dieser Plan zerschlug sich jedoch, sodass im Frühjahr 1942 auf dem Gründungsgelände in Volmerdingsen ein Reservelazarett der Wehrmacht eingerichtet wurde.

  • 1942-1945

    Obwohl der Wittekindshof als Betreiber des Lazaretts fungierte, blieb ihm für seine eigentliche diakonische Arbeit nur wenig Raum: Das Schloss Ulenburg bei Löhne, das Haus Vorwerk auf der Heide in Volmerdingsen und das Haus Friedenshöhe auf dem Gründungsgelände konnten notdürftig weiter genutzt werden. Die Arbeit fand unter äußerst beengten Verhältnissen statt. Im Laufe der Zeit wuchs das Lazarett auf bis zu 1.200 Betten an. Auch Wohnraum wurde knapp – für das medizinische Personal, das oft mit Familien anreiste, sowie für Angehörige der verwundeten Soldaten, die den Besuch als Erholungsurlaub nutzten.

    Ein großer Teil der verbliebenen, vergleichsweise leicht beeinträchtigten Menschen wurde im Lazarett beschäftigt. Dadurch kamen sie mit einer Welt außerhalb des bislang behüteten, christlich geprägten Lebens im Wittekindshof in Kontakt. Es wurde befürchtet, dass sie sich dadurch vom christlichen Glauben entfernten – etwa, weil sie sich zunehmend weigerten, an der Christenlehre teilzunehmen. Aufgrund des massiven Personalmangels mussten sie zudem verantwortungsvolle Aufgaben übernehmen, wie etwa das Melken der Kühe – Tätigkeiten, die zuvor ausschließlich Mitarbeitenden vorbehalten waren. An pädagogische Arbeit mit den Bewohnerinnen und Bewohnern war in dieser Zeit kaum noch zu denken. Es ging nur noch darum, den Betrieb irgendwie aufrechtzuerhalten.

  • 4. Mai 1945

    Am 4. Mai 1945 endete der Krieg in Volmerdingsen und im Wittekindshof mit dem Einmarsch amerikanischer Truppen. Das Reservelazarett wurde zunächst als Kriegsgefangenenlazarett weitergeführt und verblieb vorerst unter der Trägerschaft des Wittekindshofs. Die Einrichtung stellte weiterhin Personal wie Diakonissen aus Bethel sowie Haus-, Garten- und Küchenkräfte – darunter auch viele sogenannte „Pfleglinge“, wie man die Bewohnerinnen und Bewohner damals nannte.

    Bereits am 17. April hatten die Amerikaner den Kreis Minden wieder verlassen, um den britischen Truppen Platz zu machen. Diese richteten in Bad Oeynhausen ihr Hauptquartier für die britische Besatzungszone ein. Die Bevölkerung musste die Innenstadt innerhalb weniger Tage räumen. Auch das dortige Krankenhaus wurde verlegt – ins Haus Vorwerk. Damit fiel dieses Gebäude auf Jahre als Wohnraum für die Bewohnerschaft weg.

  • Juli 1945

    Zum 1. Juli 1945 wandelten die Briten das Kriegsgefangenenlazarett in das „23rd Scottish General Hospital“ mit 600 Betten um. Genesene deutsche Soldaten wurden entlassen, andere in andere Einrichtungen verlegt. Für den Wittekindshof bedeutete das eine wirtschaftliche Katastrophe. Als bisheriger Betreiber des Lazaretts hatte die Einrichtung finanzielle Vergütungen erhalten. Nun war sie faktisch enteignet. Personal wurde entlassen oder nur teilweise von den Briten übernommen, darunter auch die Diakonissen aus Bethel. Viel Eigentum ging verloren: Betten, Matratzen, Bettlaken und ärztliches Gerät wurden gestohlen oder als „unbrauchbar“ verschenkt. Auch zwei Arztwohnungen, ein weiteres Mitarbeiterwohnhaus sowie die Poststelle wurden beschlagnahmt – der Wittekindshof hatte keine Telefonverbindung mehr nach außen. Das Gelände war von Stacheldraht umgeben; ein Schlagbaum regelte den Zutritt.

    Die Bewohnerinnen und Bewohner mussten sich nun in den verbliebenen Häusern drängen: der Friedenshöhe in Volmerdingsen (offiziell 130 Betten) und dem Schloss Ulenburg bei Löhne (90 Betten). Glücklicherweise wurden die landwirtschaftlichen Betriebe nicht beschlagnahmt und konnten weitergeführt werden. Anfang Juli 1945 lebten noch 281 „Pfleglinge“ im Wittekindshof. Auch das verbliebene Personal musste sich einschränken, denn zusätzlich wurden Ausgebombte und Vertriebene aus Bad Oeynhausen aufgenommen.

  • 1945-1948

    Trotz aller Widrigkeiten stieg die Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner wieder an. Ende 1945 lebten bereits 390 Menschen mit Beeinträchtigung im Wittekindshof – Tendenz steigend. Um Platz zu schaffen, wurden Tagesräume zu Schlafsälen umfunktioniert, Betten auf den Fluren aufgestellt, Etagenbetten angeschafft. Ende 1946 wohnten 222 Menschen in der Friedenshöhe und 148 im Schloss Ulenburg. Im ärztlichen Jahresbericht wurde gewarnt, man habe „das Äußerste erreicht, was ärztlich noch zu verantworten sei“. 

    Die Not dominierte alle Bereiche: räumlich, hygienisch, sanitär – und in der Betreuung wie auch Versorgung der Menschen. Viele kamen unterernährt und entkräftet aus den Kriegswirren in die Einrichtung. Lebensmittel, Kleidung und Heizmaterial waren knapp. Man unternahm große Anstrengungen, um die Sterberate niedrig zu halten. Das Fehlen von Seife, Waschmittel und Desinfektionsmitteln führte zu zahlreichen Hauterkrankungen; Infektionskrankheiten breiteten sich ungehindert aus. Krankensäle gab es nicht, ebenso wenig eine geschlossene Abteilung für Menschen mit Erregungszuständen, notorische Ausreißer oder gemeingefährliche Personen.

  • Juli und August 1948

    Nach vielen vergeblichen Versuchen, das Gelände zurückzuerhalten, begannen die Briten Anfang Juli 1948, den Wittekindshof schrittweise zu räumen. Mit der Rückgabe des Krankenhauses Bethanien am 13. August endete die Besatzungszeit. Die übernommenen Gebäude waren kaum noch bewohnbar: Betten, Geschirr, ärztliche Instrumente – selbst Heizkessel – waren verschwunden oder dem Verfall preisgegeben. Wie der damalige Anstaltsvorsteher Dr. Johannes Klevinghaus sagte, startete der Wittekindshof „bei minus Null“.