Riech mal, Dennis, die Zuckerwatte“, sagt Stefanie Brandhorst und fächert mit ihrer Hand den vanilligen Duft in Dennis Reiters Richtung. Die beiden stehen vor der Süßwarenbude auf dem Dorffestival in Bad Oeynhausen-Volmerdingsen. Die Luft ist gespickt mit Zucker, die Aromen von gebrannten Mandeln, kandierten Äpfeln und Lebkuchenherzen hängen über dem Kirmesplatz. Auch wenn Dennis Reiters Geruchssinn durch sein Tracheostoma eingeschränkt ist, versucht Stefanie Brandhorst ihn an den Gerüchen teilhaben zu lassen. „Dann wollen wir dir mal ein Andenken kaufen“, sagt die Wittekindshofer Mitarbeiterin, greift zum Portemonnaie und sucht ein Lebkuchenherz für den 38-Jährigen aus. „Räuber“ steht in weißer Schnörkelschrift auf dem Lebkuchen. „Das passt zu dir“, sagt Stefanie Brandhorst, hebt behutsam Dennis Reiters Kopf und hängt ihm das Herzchen um den Hals. Dabei achtet sie besonders darauf, dass das Band nicht an sein Tracheostoma kommt, durch das er atmen kann. Dennis Reiter ist schwerstmehrfachbehindert. Er lebt im Haus Bethanien auf dem Gründungsgelände der Stiftung in einer hochspezialisierten Wohngruppe.
Der Verantwortung bewusst sein
Heute hat er einen guten Tag, das liest Stefanie Brandhorst an seinen Gesundheitswerten ab. Puls, Blutdruck und Sauerstoffgehalt im Blut – stündlich werden diese kontrolliert. Aber auch seine Mimik, Gestik und Anspannung des gesamten Körpers sind Indikatoren für seine Tagesform. „Nur wenn das und die Werte stimmen, können wir so eine Unternehmung auch machen“, erklärt die Gesundheits- und Krankenpflegerin, die Dennis Reiters Bezugsmitarbeiterin ist. Sie kennt ihn seit zehn Jahren und weiß genau, wann er einen guten oder schlechten Tag hat: „Die Werte können sich von der einen auf die andere Sekunde verändern. So sehr wir es uns als Mitarbeitende nach den langen und intensiven Corona-Restriktionen wünschen, mit den Bewohnern und Bewohnerinnen Feste zu besuchen – wenn es nicht geht, geht es nicht. Wir spielen nicht mit Menschenleben und müssen uns immer wieder der Verantwortung bewusst sein – dass es von jetzt auf gleich zu einer lebensbedrohlichen Situation kommen kann.“ Deshalb ist ihr Begleiter auf dem Fest auch ein Handy, immer greifbar, für den Fall, dass ein Notarzt gerufen werden muss. Unverzichtbar sind zudem das Absauggerät, das Dennis Reiters Atemwege reinigt, und Bedarfsmedikation.
Visuelle und geschmackliche Reize
Dennis Reiters Gesicht ist noch etwas weiß und glänzt. Sonnencreme gehört ebenfalls zur Vorbereitung für den Festbesuch. „Dennis spürt jetzt intensiv die Wärme der Sonne“, erklärt Stefanie Brandhorst und legt ihre Hand fühlend auf die Brust des 38-Jährigen. Sie schiebt seinen Rollstuhl vorbei an der Bühne auf dem Combi-Parkplatz, auf der gerade der Shanty-Chor singt. Es ist eng, aber die Leute machen Platz für den Rollstuhl. Überall sind Geräusche: fröhliche Gespräche, das Brutzeln der Pommes in der Fritteuse und die Bimmelbahn Minna. Vorbei am Bratwurststand und dem Flohmarkt geht es die Volmerdingsener Straße hinunter zur Kirchwiese. Die Geräusche und vor allem die visuellen Reize machen Dennis Reiters Tag zu einem besonderen. „Es ist natürlich schwer für Dennis mit der Trachealkanüle etwas zu essen. Wir arbeiten daher mit Mundpflegestäbchen, die wir in Ketchup, Eis in allen Geschmacksrichtungen und etwas Zuckerhaltiges tränken und ihm auf die Zunge streichen. Es muss schön intensiv schmecken. Das mag Dennis sehr. Alles, was anders als der Alltag ist. Und das ist hier auf dem Dorffestival natürlich vieles“, erklärt die Krankenpflegerin, die extra ehrenamtlich aus ihrem Urlaub gekommen ist, um mit Dennis Reiter über das Fest zu gehen, das fast direkt vor der Tür des Hauses Bethanien beginnt.
Mitarbeitende engagieren sich
„Ohne das ehrenamtliche Engagement der Mitarbeitenden könnten wir es nicht leisten, dass fast alle Bewohner und Bewohnerinnen der Gruppen A1 und B1 auf das Dorffestival können. Die Kollegen und Kolleginnen kommen aus dem ,Frei‘, sogar aus dem Urlaub, um den Besuch zu ermöglichen. Denn die Mitarbeitenden, die im Dienst sind, müssen die Versorgung der Menschen vor Ort gewährleisten. Ein zeitaufwendiger Ausflug aufs Fest ist da nicht drin“, erklärt Christian Pohlmann, Bereichsleitung im Haus Bethanien und verantwortlich für das spezialisierte Wohnangebot mit außerklinischer Intensivversorgung, etwa bei Beatmungspflicht und Atemunterstützung. Knapp 30 Frauen und Männer sind in seinem Team tätig, im Dreischichtsystem, 24 Stunden, sieben Tage die Woche versorgen sie 21 Menschen. Trotz aller Belastungen sei es für die Mitarbeitenden fast schon selbstverständlich, zu diesen seltenen Anlässen im Einsatz zu sein. „Ich kann es als Leitung nicht verlangen oder einfordern. Wir sprechen in der Teamsitzung darüber, wenn ein Fest ansteht. Die Kollegen und Kolleginnen melden sich dann freiwillig. Ich achte dann darauf, dass alles gut auf viele Schultern verteilt wird. Aber ohne diesen Einsatz ginge es nicht“, betont Christian Pohlmann. „Wer diesen Job in der Intensivpflege macht, macht ihn mit Herz“, sagt Stefanie Brandhorst. In einem anderen Bereich zu arbeiten, kommt für sie derzeit nicht in Frage. Und wenn nötig, kommt sie auch wieder aus dem Urlaub, damit Dennis Reiter mit dabei sein kann. „Wir hatten heute einen super Tag!“