Der Seminarraum auf der Nordseite des Gesundheitscampus füllt sich langsam. Noch ist die akademische Viertelstunde nicht verstrichen, doch Anke de Vries und Daniel Beisbart sind bereits startklar. Sorgfältig haben sie ihre Präsentation vorbereitet, um Studierenden im Fachbereich Gesundheitswissenschaften der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Gesundheit Bochum einen persönlichen Einblick in ihr Leben mit dem Prader-Willi-Syndrom (PWS) zu geben – als Expertin und Experte in eigener Sache.
Ich möchte, dass Ärzte besser über meine Erkrankung Bescheid wissen und andere Betroffene besser Hilfe bekommen
Anke de Vries
Das Prader-Willi-Syndrom ist eine seltene genetische Erkrankung, die mit einer geistigen Beeinträchtigung sowie einer angeborenen Esssucht einhergeht. Unbehandelt kann sie zu massiven gesundheitlichen Problemen führen. Offen sprechen die beiden Referierenden über ihren Alltag mit der Erkrankung und ihren Umgang damit. „Ich möchte, dass Ärzte besser über meine Erkrankung Bescheid wissen und andere Betroffene besser Hilfe bekommen“, erklärt Anke de Vries ihren Antrieb. Daniel Beisbart ergänzt: „Deshalb berichten wir heute aus unserem Leben mit PWS.“
Die 44-Jährige und der 35-Jährige werden vom Wittekindshofer Fachteam für PWS in Herne unterstützt und arbeiten in den Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) der wewole-Stiftung. Beide sind Teil des inklusiven Hochschulprojekts „Gemeinsam Lernen und Lehren“, das Menschen mit und ohne Beeinträchtigung zusammenbringt, um voneinander zu lernen und gemeinsam zu forschen.
Anke de Vries berichtet offen über ihre Entwicklung: „Ich habe sieben Jahre im Wittekindshofer Wohnhaus am Emsring gewohnt. Dort habe ich mich halbiert“, erzählt sie stolz von ihrer erfolgreichen Gewichtsabnahme. Inzwischen lebt sie im Wohnhaus an der Mont-Cenis-Straße – einem spezialisierten Angebot für Menschen mit PWS oder Adipositas in Kombination mit kognitiver Beeinträchtigung. Kleine Wohngemeinschaften und pädagogische Begleitung unterstützen sie, ein möglichst selbstständiges Leben zu führen. „Mein Ziel ist es, alleine zu wohnen und ambulant unterstützt zu werden“, sagt sie.
Wie ihr alle wollen auch wir irgendwann alleine wohnen.
Daniel Beisbart
Auch Daniel Beisbart hat klare Strukturen in seinen Alltag integriert: „Wir dürfen alles essen – aber in Maßen“, erklärt er. „Jeder hat eine eigene Obstliste mit Kalorien- und Grammangaben. Ich achte auf meine Ernährung und mache dreimal pro Woche eine Stunde Sport.“ Der Vortrag stößt bei den Studierenden auf großes Interesse.
Eine Teilnehmerin fragt nach den Unterschieden zwischen einzelnen PWS-Wohnangeboten. „Wie ihr alle wollen auch wir irgendwann alleine wohnen“, antwortet Daniel Beisbart. Die unterschiedlichen Wohnangebote bereiteten schrittweise darauf vor. Die Wohngruppe an der Mont-Cenis-Straße etwa ermögliche deutlich mehr Selbstständigkeit, trotzdem gebe es immer Ansprechpartner vor Ort.
Für die Studierenden eröffnet das Projekt wertvolle Einblicke in die Lebensrealität von Menschen mit Beeinträchtigung. Anna Brendel, Studentin im sechsten Semester des Studiengangs „Gesundheit und Diversity“, hat Anke de Vries und Daniel Beisbart bei der Vorbereitung ihres Vortrags unterstützt. „Vorher wusste ich kaum etwas über das Prader-Willi-Syndrom“, sagt sie. „Jetzt sehe ich viele Situationen mit anderen Augen – zum Beispiel, dass ein einfacher Gang in die Mensa für manche Menschen sehr herausfordernd sein kann.“
Die Zusammenarbeit habe sie als sehr bereichernd erlebt. „Ich glaube, dass Anke und Daniel bei vielen Studierenden etwas ausgelöst und wichtige Aufklärungsarbeit geleistet haben. Es ist entscheidend, dass angehende Fachkräfte in Gesundheitsberufen mehr über Krankheitsbilder und Teilhabe erfahren.“
Auf Augenhöhe
Auch Projektmitarbeiterin Julia Brüggemann betont die Relevanz des Projekts: „Unser Ziel ist es Barrieren sichtbar zu machen und neue Perspektiven für das Gesundheitswesen zu eröffnen.“ Die studierte Sozialwissenschaftlerin begleitet das Projekt von Beginn an. Es entstand aus einer früheren Kooperation zwischen der Hochschule und dem Wittekindshof, in der Methoden entwickelt wurden, um Menschen mit Beeinträchtigung stärker in kommunale Planungsprozesse einzubeziehen.
„Mit ‚Gemeinsam Lernen und Lehren‘ gehen wir nun einen Schritt weiter“, sagt Julia Brüggemann. Aktuell beteiligen sich 16 Menschen mit Beeinträchtigung als Co-Forschende im Rahmen eines zusätzlichen Bildungsangebots der wewole-Werkstätten. Julia Brüggemann betont: „Ein zentraler Aspekt ist es, echte Begegnungen auf Augenhöhe zu ermöglichen. Menschen, die sich im Alltag sonst nicht begegnet wären, arbeiten hier gemeinsam an Zielen – und erleben, was gleichberechtigte Zusammenarbeit wirklich bedeutet. Das stärkt Selbstwirksamkeit auf beiden Seiten.“